Donnerstag, 28. Mai 2009

Jahresbericht für das AGO

Hier nach langer Zeit mal wieder eine Meldung von mir. Diesen Text könnt ihr auf der AGO-Homepage finden, für die er ursprünglich gedacht ist. Ich stelle ihn auch hier online, damit ihr euch den Weg dorthin sparen könnt.

Gott ist Brasilianer - Und ich auch!
Am 21.07.08 nahm ich meine Mutter das letzte Mal vor dem Austausch in den Arm. Nachdem ich die Flughafensicherheit passiert hatte, stieg ich wenig später in das Flugzeug, um elf Stunden später schließlich in Sao Paulo anzukommen.

Todmüde von den Strapazen und der Aufregung wurde ich schnell von meinem Gastbruder Guilherme erkannt, der mich in perfektem Englisch begrüßte. Mit ihm und meinem neuen Vater ging es dann auf den zweiten Teil der Reise, eine acht-stündige Autofahrt aus der Metropole Sao Paulo nach Presidente Prudente, wo ich jetzt seit inzwischen zehn Monaten zu Hause bin.

Die 260.000 Einwohner Stadt liegt im äußersten Westen des Staates Sao Paulo. Die Umgebung wird durch mit trockenem Gras bewachsene Hügel definiert und ist ähnlich wie Oldenburg vor allem für Viehzucht in großem Rahmen bekannt.

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Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf Presidente Prudente

Im Gegensatz zu Oldenburg ist es hier allerdings durchgehend zwanzig bis vierzig Grad warm und die Sonne scheint ein paar Tage öfter im Jahr. Es wachsen Palmen, und wilde Papageienarten wecken einen morgens mit lauten Zwitschern.

Da ich über Rotary in den Austausch gegangen bin, habe ich im Verlauf des Jahres bei drei Familien gewohnt. Ich bin mit allen hervorragend verstanden.

Guilherme, mein erster Gastbruder, sprach wie bereits erwähnt sehr gutes Englisch, so dass er mir durch die ersten zwei Wochen helfen konnte: übersetzen, erklären, Freunde vorstellen oder mir Interessantes zeigen. Leider brach er dann aber auch schon in seinen Austausch nach Ungarn auf.

Meine erste Gastmutter, Cecilia, spricht gar kein Englisch, so dass ich mich schnell daran gewöhnt habe, portugiesisch zu verstehen und ansatzweise auch zu sprechen. Natürlich hat sich auch mein Englisch verbessert.

Nach drei Monaten war die Sprache dann immer weniger ein Problem. Ich konnte den Unterricht verfolgen und mich endlich auch mit denen unterhalten, die kein Englisch sprechen.

Aber ich habe den Unterricht erwähnt. Schule.
Ich gehe auf die Privatschule Colegio Átomo, die beste der Stadt. Das Átomo ist einsträngig, und eine der kleinsten Schulen hier.

Ähnlich wie in Deutschland gibt es Ober- und Unterstufe, sechs Stunden am Vormittag und Klassen von circa 30 Schülern. Der Unterricht selbst aber hat wenig mit dem deutschen gemein.

Mittels Frontalunterricht werden hier komplexe Sachverhalte vor allem aus den Naturwissenschaften eingetrichtert, ohne Schülerbeteiligung oder gar gemeinsames Erarbeiten.

Zum Beispiel kam es vor, dass in einer Physikstunde (vorletztes Schuljahr) Magnetismus zum ersten (!) mal durch genommen wurde. Binnen 20 Minuten erklärte der Lehrer, was ich von der ersten Klasse bis heute gelernt und behalten hatte. Das ist gar nicht so wenig. Der Rest der Stunde wurde dann genutzt, um die Formeln zur Magnetfeldberechnung zu erklären und anzuwenden und abzuwandeln: Anziehung abhängig von Distanz, Größe und Stärke des Magneten.

Die Praxis spielt fast gar keine Rolle, in einem Jahr habe ich kein Experiment gesehen, und auch im Englischunterricht redet nur der Lehrer, die Schüler hören zu oder machen ab und zu Übungsaufgaben.

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Schuluniform ist Pflicht: Meine Mitschüler

Eine der ältesten Frauen der Welt lebt in Brasilien. Als sie anlässlich ihres 129. Geburtstages nach dem Geheimnis ihres Alters gefragt wurde, gab sie ihre „Ernährung auf Basis von Reis mit Bohnen“ an. Als ich davon in den Nachrichten gelesen habe, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen: Seit meiner Ankunft gab es hier zum Mittagessen kaum anderes als kreative Reis-Bohnen Kombinationen mit verschiedenen Fleischvarianten.

Abgesehen davon hat die brasilianische Küche auch anderes zu bieten, Gemüse, Nachspeisen, und natürlich die vielen tropischen Früchte, aber wenn ich zurück in Oldenburg je brasilianisch kochen werde, wird es Reis mit Bohnen geben.

Was ich mit Sicherheit auch in Oldenburg machen werde, ist „Churrasco“. Ein Grillfest mit Freunden und Familie, auf das man jeden Sonntag irgendwo eingeladen wird. Es gibt einen Geburtstag zu feiern? Also gibt es ein Churrasco! Verwandte sind zu Besuch? Natürlich gibt es ein Churrasco! Man hat am Sonntag noch nicht vor? Nichts liegt näher als ein Churrasco!

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Churrasco

Wie man sieht lernen Brasilianer gerne Fremde kennen, und so habe ich mich auch vom ersten Moment an immer willkommen gefühlt.
Die ersten vier Monate habe ich damit verbracht, möglichst viele Brasilianer und Austauschschüler hier in Presidente Prudente kennen zu lernen. Dabei habe ich mich auch gleich an die anderen Umgangsformen hier gewöhnt.

In meinem Blog über den Austausch habe ich an meinem 28. Aufenthaltstag folgendes geschrieben:

„Die Brasilianer sind viel offener als die Deutschen. Stellt euch einen richtig offenen Deutschen vor. Euch fällt bestimmt einer ein. Jetzt füllt ein Land mit 188 Millionen davon, in jedem erdenklichen Alter, jeder Hautfarbe, jedem sozialen Stand, Aussehen etc.

Hier fangen die Portiere von Hochhäusern Gespräche mit einem an, wenn man auf jemanden wartet.

Hier kennt man als Jugendlicher die Kellner in der Shoppingmall beim Vornamen und begrüßt sich mit Handschlag.

Hier erzählt eine Lehrerin in der Schule herum, dass ich das brasilianische Bier nicht so gerne mochte, als ich bei ihrem Sohn auf einer Cervejada (ungefähr Bierfest) war.

Oder die Lehrer holen begeistert die Schulleiterin in die Klasse, wenn jemand wirklich im Unterricht einschläft. Und zwar damit die ein Foto für die Schulhomepage machen kann.“

Nach zehn Monaten scheinen mir diese Dinge vollkommen normal, und ich kann es mir kaum noch anders vorstellen. Mit Sicherheit werde ich Gesprächspartnern für deutsche Verhältnisse viel zu nahe kommen, in beiden Sinnen: der normale Abstand bei Gesprächen beträgt 20 Zentimeter, und bei den Gesprächsthemen gibt es wirklich kaum Grenzen. Inzwischen habe ich mich aber so sehr daran gewöhnt, dass ich mir schon gar keine Beispiele für Themen mehr vorstellen kann, über die man nicht schon beim kennen lernen reden könnte.

Im November fingen dann die großen Sommerferien an, für mich hieß das zuerst einmal: Grande Viagem! Die Grande Viagem ist eine über Rotary organisierte 29-Tage Reise einmal quer durch Brasilien. Wieder ein kleiner Auszug aus meinem Blog, diesmal drei Tage nach meiner Rückkehr, am 14.12.08 geschrieben:

„Die Reise war einfach fantastisch, und ist wohl perfekt verlaufen. Jeder Ort, den wir gesehen haben, hatte seine ganz speziellen Eigenheiten, und ich habe erst richtig begriffen, wie groß und vielfältig Brasilien ist. Ich war im Urwald des Amazonas, an den Stränden im Nordosten und in Rio de Janeiro, ich habe Piranhas geangelt, Krokodilfleisch probiert, in Hängematten geschlafen, ich habe gigantische Tropfsteinhöhlen gesehen und bin mit Fischen geschnorchelt, habe mit Händlern auf dem Mercado Modelo gefeilscht, ich war auf dem Zuckerhut und an der Copacabana, ich kann bezeugen wie schön die Mädchen von Ipanema sind und noch vieles mehr!“

Man sieht – er war einfach ein Traum!
Ich habe meiner Gastmutter enthusiastisch erzählt, es wäre der beste Monat meines Lebens gewesen. Und auch heute kann ich daran nichts Falsches finden, diese 29 Tage mit zwanzig Austauschschülern aus aller Welt waren der Spaß meines Lebens!
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Im Urlaub mit meiner zweiten Gastfamilie (links im Bild), Tanten und Cousins

Direkt nach der Reise habe ich in meine zweite Gastfamilie gewechselt, bei der ich die restlichen zwei Ferienmonate in einem Condominium (Gated Community) verbracht habe. Viele Menschen in Deutschland stehen solchen Nachbarschaften kritisch gegenüber, da aber bei meiner ersten Gastfamilie allein während meines Aufenthaltes zwei mal eingebrochen wurde, kann ich Condominiums-Bewohner inzwischen nur all zu gut verstehen.

Im Condominium hatte ich all die Freiheiten, die mir außerhalb wirklich gefehlt hätten: ich konnte zu Fuß Freunde besuchen gehen. Ich konnte auch nachts noch allein auf der Straße unterwegs sein. Ich konnte joggen gehen und sogar meinen iPod mitnehmen.

Ferien außerhalb des Condominiums wären sehr langweilig gewesen, ich hätte das Haus nur selten verlassen können und wahrscheinlich viel Zeit vor dem Fernseher tot geschlagen. So aber war ich in den gut zwei ein halb Monaten Ferien nur zwei mal vor drei Uhr Morgens im Bett.

Natürlich bin ich auch abgesehen von der Grande Viagem während der Ferien noch viel gereist, ich habe über Weihnachten und Neujahr zum Beispiel zwei Wochen in Minas Gerais verbracht. Minas Gerais (sehr frei übersetzt: „Minen Staat“) ist der geschichtlich gesehen wichtigste Staat Brasiliens, und so waren diese zwei Wochen sehr interessant.

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Blick auf die historische Stadt Ouro Preto in Minas Gerais

Nach den Ferien ging der Alltag dann weiter, und nach mehr als drei Monaten ohne Schulroutine fiel mir der Anfang wirklich sehr schwer: Im letzten Schuljahr hatte ich aufgepasst, und sogar zum Ende hin die Arbeiten mitgeschrieben. Nun war meine Aufmerksamkeitsspanne deutlich verkürzt, und schnell habe ich den Anschluss verloren.

Zu meiner Verteidigung kann ich aber sagen, dass meine Klassenkameraden inzwischen fast nur noch lernen. Im Terceiro Colegial, dem letzten Schuljahr, wird auch nichts anderes von ihnen erwartet. Der Unterricht ist eine Wiederholung der letzten Schuljahre im Schnelldurchlauf, komplett auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten ausgerichtet. Es gibt keine Stunde in der nicht Warnungen wie: „Diese Frage wird besonders gerne gestellt“ oder „Das kam 2008 bei den Prüfungen dran“ fallen. Die Lehrer stellen Wochenpläne für Schüler vor, die so klingen: „Einmal die Woche musst du dich sportlich betätigen, sonst machst du im Prüfungsmarathon körperlich schlapp. Am Wochenende kannst du ausgehen – einmal. Ansonsten nur lernen, sonst schaffst du es nicht!“
Ein wenig aufgelockert wird dieses Klima zum Glück aber, wenn es einen so genannten Trote (sprich „Trotsch“) gibt: An einem Tag in der Woche kommen wir, statt in Schuluniform, nach einem Motto verkleidet zur Schule. Gelernt wird natürlich trotzdem.

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„Trote de Cauboi“: Alle kamen als Cowboy verkleidet

Angesichts solcher Anforderungen an meine Mitschüler habe ich mir Hobbies gesucht, damit ich nicht so viel Zeit alleine zu Hause verbringen muss: Ich nehme an der Philosophie AG teil und habe Capoeira und Samba Unterricht.

So habe ich hier ein wunderbares und vollkommen anderes Jahr in Brasilien verbracht. Ich habe viel mehr als bloß eine weitere Fremdsprache gelernt. Ich finde mich ohne Probleme in dieser so anderen Kultur zurecht, und indem ich mit anderen Austauschschülern geredet habe, habe ich auch viel über die USA, Australien oder Kanada gelernt. Ich tanze und trommle Samba und ich weiß wie man ein ordentliches Churrasco oder auch Reis mit Bohnen zubereitet. Ich habe viel über die Welt und mich selbst gelernt, über Deutschland und Menschen an sich. Was aber noch wichtiger ist: Ich habe gute Freunde auf der ganzen Welt.

Um zum Schluss zu kommen noch eine letzte kleine Anekdote:
Auf einer großen Rotary Konferenz vor zwei Wochen hat eine aus den Staaten zurückgekehrte Austauschschülerin eine PowerPoint Präsentation über die Erlebnisse während ihrem Jahr in Ohio gehalten. Die letzte Folie hat mich sehr beeindruckt. Mit ihren Worten will auch ich aufhören:

„Hier würde sonst `Ende´ oder etwas ähnliches stehen. Aber es ist nicht das Ende. Austausch, das ist nicht ein Jahr in einem anderen Land. Der Austausch geht weiter. Austausch ist eine Lebenseinstellung. Vielen Dank für diese Möglichkeit!“

Robert Spalthoff


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Sonnenuntergang, fotografiert von meinem Fenster aus

Montag, 18. Mai 2009

Grande Viagem - Der Clip

Am Wochenende war ich auch einer Rotarykonferrenz und habe eine DVD über die Rotaryreisen erhalten. Den 5 minütigen Clip, der die Reisen gut zusammenfasst, habe ich auf YouTube geladen, und hier ist er!